Die vergessene Stadt im Amazonas

Es ist später Nachmittag als wir in der Pousada Americana in Fordlândia aufwachen. Wir sind erholt und noch satt von Raimondos Frühstück und so langsam stellt sich statt Müdigkeit der alte Tatendurst wieder ein. Das erste, was wir von Fordlândia sehen ist ein deutscher Dokumentarfilm, den eine junge Dokumentarfilmerin vor ein paar Jahren über Fordlândia gedreht hat. Damals hatte Raimondo sein Boot noch und ist sehr stolz darauf, dass er damit im Film auch mitgewirkt hat. Der Film erzählt anhand von Interviews und Bildern die Geschichte des Ortes und er zeigt, wie die Bewohner heute versuchen, das kulturelle Erbe aufrecht zu erhalten. Obwohl dieser Ort kaum jemandem bekannt ist, ist er die Quelle eines wagemutigen sozialen Experiments und einer der größten wirtschaftlichen Misserfolge seiner Zeit.

Das kleine, etwas verträumte Fordlândia

Um 1920 war Henry Ford einer der berühmtesten Persönlichkeiten der Welt. Mit seinem Ford Model T und der Fließbandfertigung hatte er ein Vermögen verdient und die Mobilität in eine neue Ära geführt. Im Hinblick auf seine Automobilfertigung waren ihm zwei Dinge besonders wichtig: Effizienz und Unabhängigkeit. Die Effizienz erreichte er durch die arbeitsteilige Fertigung in seinen Fabriken, die Unabhängigkeit indem er versuchte, auch alle zuliefernden Industrien in eigener Hand zu haben. Das Holz, den Stahl, die Stoffe und viele andere, für seine Autos notwendigen Ressourcen besaß er selbst. Nur ein Rohstoff machte ihm Sorgen: Kautschuk. Für die Reifenherstellung musste er Kautschuk von den großen Kartellen kaufen, welche diesen in Malaysia und anderen Tropenländern anpflanzten und ernteten. Eine Methode zur chemische Herstellung von Gummi war damals noch nicht bekannt.

Kautschuk wurde damals per Hand geerntet

Ford beauftragte einiger seiner vertrautesten und engsten Mitarbeiter mit der Suche nach einem Gebiet, in dem man Kautschukbäume in großem Stil anpflanzen konnte. Diese waren zwar keine Experten auf dem Gebiet, hatten aber vorher schon viele andere Probleme erfolgreich für Ford gelöst. Und sie enttäuschten auch dieses Mal nicht. Sie fanden ein geeignetes Stück Land an einem Nebenfluss des Amazonas. Ford kaufte 1927 und ließ mit zwei Schiffen schweres Gerät und diverse Materialien zum Bau einer Siedlung sowie von Plantagen und Werkhallen antransportieren. Er wollte mitten im Dschungel eine Kleinstadt nach amerikanischem Vorbild schaffen, mit Kanalisation, Häusern mit Gärten, Terrassen, fließend Wasser, Straßen mit Gehwegen, Parks, Einkaufs-, Erholungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten, mit Hotel, Krankenhaus, Friedhof usw.

Fords Werkhallen in Fordlândia – verlassen und ungenutzt

Die Geschichte des Baus ist super interessant und es gab viele Rückschläge. Es gab Revolten, Epidemien mit Todesfällen, Abwanderung der Arbeitskräfte, aber am Ende baute Ford seine Kleinstadt. Er lehrte die brasilianischen Arbeiter das amerikanische Kleinstadtleben, mit Kirche und Vorgarten, nicht immer mit deren Einverständnis. Auch die Ingenieure und deren Familien waren nicht permanent vom Leben mitten im Dschungel begeistert, trotz aller Annehmlichkeiten. Das schlimmste aber war der wirtschaftliche Misserfolg. Ford hatte keine Botaniker oder Biologen im Vorfeld zu seinem Vorhaben befragt. Die hätten ihm aber ein paar sehr gute Ratschläge geben können. Zum Beispiel, dass Kautschukbäume im Dschungel einzeln und in Abständen von 100 Metern und mehr stehen. Fords Jungbäume wurden immer wieder von Krankheiten und Pilzen befallen, die sich schnell von einer Pflanze zur nächsten ausbreiteten. Ein Jahr nach dem anderen konnte nichts geerntet werden. Die Plantagen der Konkurrenz in Malaysia hatte das Problem nicht. Die Kautschukbäume waren dort nicht heimisch, sondern Brasilien importiert wurden. Es gab die zerstörerischen Pilze Brasiliens dort nicht. Ford versenkte ein Vermögen in Fordlândia. Bis zum Beginn der 1940er, an dem Gummi endlich industriell hergestellt werden konnte, wurde nicht eine einzige Ladung Kautschuk aus Fordlândia geliefert. Ford selbst hat seine Stadt im Dschungel nie besucht.

Die über 80 Jahre alten Maschinen sind immer noch da

Das ist die Geschichte von Fordlândia. Seitdem ist der Ort in Vergessenheit geraten. Wenn man den Tapajós entlangkommt, sieht man schon aus der Ferne den großen Wasserturm der Stadt und bald darauf die großen Werkhallen. Beides ist unser erstes Ziel gleich nach Raimondos Filmvorführung. Das Tor zum Werksgelände steht offen. Daneben ist ein kleines Holzhaus mit einem leeren, leicht angerosteten Eisenstuhl mit Ford-Logo darauf. Niemand ist zu sehen. Auch die Türen der großen Hallen, mit den teilweise kaputten Fenstern, sind offen. Es ist niemand da. Vor uns stehen alte Maschinen von Junkers, Weston, Brown & Sharpe, Mernak – große Drechselmaschinen, Schleifbänke, Stanzen, Bohrer, Spannungswechsler und vieles mehr. Etwas Regenwasser hat sich hier und da auf dem Boden in kleinen Pfützen gesammelt. Weiter hinten in der Halle trottet ein Esel gemächlich vorbei und schaut uns etwas gelangweilt zu. Es sieht aus, als ob noch alles da ist und man mit ein paar Handgriffen alles wieder zum Laufen bringen könnte. Auf dem Dachboden der Halle steht noch ein altes Regal. In Holzkisten der Standard Oil Company lagern teilweise noch fein säuberlich sortiert, aber mit einer dicken Staubschicht bedeckt, T-Stücken, Dichtungsringe und allerlei Kleinkram. Es ist fast unglaublich, dass hier in den letzten 80 Jahren niemand randaliert hat oder die Sachen einfach entfernt hat. Es weiß einfach niemand von Fordlândia.

Alte Ersatzteile in Kisten, teilweise unberührt und vom Staub bedeckt

Als wir abends nach Hause kommen, tischt uns Raimondo ein gutes Essen auf. Seine Frau ist für ein paar Tage in Santarém, Besorgungen machen, solange ist er mit seinen sehr gesprächigen beiden Papageien Strohwitwer. Es ist unglaublich heiß und schwül, die Mücken lassen nicht lange auf sich warten. Mindestens einmal am Tag, recht pünktlich am frühen Nachmittag, geht in Fordlândia ein kurzer aber heftiger Regenschauer nieder. Das Wasser fließt dann sturzbachartig die hügeligen Wege hinab und reißt Schlamm und Geröll mit sich. Danach dauert es nur kurze Zeit und alles ist wieder trocken.

Wir staunen nicht schlecht über den Platzregen

Für den nächsten Tag haben wir uns das Krankenhaus vorgenommen. Es war damals das modernste Krankenhaus in ganz Brasilien. Die Behandlungen waren kostenlos, gesponsert von der Henry Ford Motor Company. Die Leute kamen aus der Hauptstadt in den Dschungel, um sich schwierigen Operationen zu unterziehen und von der modernen Technik und den neuesten Methoden zu profitieren. Auf dem Weg kommen wir an der ebenfalls von Ford errichteten kleinen, einstöckigen Schule vorbei, die heute noch in Betrieb ist. Sie hat keine Fenster und man kann direkt in die Klassenzimmer schauen und von draußen die Lehrer unterrichten hören. Das Krankenhaus selbst befindet sich etwa eine halbe Stunde Fußmarsch außerhalb des Ortes. Die Reste ergeben leider ein klägliches Bild. Raimondo hatte uns bereits erzählt, dass vor ein paar Jahren das Dach eingestürzt ist. Es war kein Geld da, um das zu verhindern. Vorsichtig bewegen wir uns durch die Trümmer. Viel ist nicht mehr zu sehen. Die alten Geräte hat der Bürgermeister in den Werkshallen oder anderen Gebäuden einlagern lassen. Ironischerweise passiert mir genau hier im Krankenhaus der einzige ernsthafte Unfall unserer Reise. Trotz aller Vorsicht trete ich in einen langen, rostigen Nagel, der sich direkt durch meine Schuhsohle in meinen Fuß bohrt. Es tut höllisch weh und blutet durch die Schuhsohle hindurch. Humpelnd und von Moppi gestützt schaffen wir es bis zu Raimondo. Weitere Erkundigungen zu Fuß fallen damit leider bis auf weiteres aus.

Der Nagel bohrt sich durch Franzis Schuh, bis tief in die Fußsohle

Am vorletzten Tag chauffiert uns Raimonde mit dem Auto. Er will uns unbedingt noch den Friedhof zeigen. Er war schon lange nicht mehr hier. Das nächste Mal, meint er mit einem kleinen Lachen, wird er wohl hierher getragen werden. Auf dem Friedhof gibt es auffällig viele Kindergräber. Die Kindersterblichkeit war extrem hoch, bevor das Krankenhaus gebaut wurde, erklärt Raimondo. Auch sehen wir viele vertraute Namensformen auf den Grabsteinen, Ingenieure und ihre Familien aus Deutschland, die Ford beim Aufbau und Betrieb der Maschinenparks unterstützt haben. Der letzte Stopp ist die kleine Allee mit den Villen, in denen die Fabrikleiter und leitenden Ingenieure mit ihren Familien gelebt haben. In einer der Villen wohnen heute Freunde von Raimondo und wir dürfen uns das Ganze auch einmal von innen ansehen. Es ist herrlich und traurig zugleich. Im Bad steht eine freistehende Badewanne mit geschwungenen Füßen und passenden Armaturen inmitten von Resten prächtiger Fließen. Wasser läuft hier nicht mehr. In den Zimmern sieht man teilweise noch Reste der alten Tapeten, von der Einrichtung ist allerdings nicht mehr viel übrig. Der alte Glanz lässt sich nur noch erahnen. Trotzdem sind die Bewohner stolz darauf, in einem Stück Geschichte zu wohnen, auch wenn sie nicht das Geld haben, etwas zu renovieren oder instand zu setzen. Das Hotel etwas weiter oben an der Straße sieht nicht viel anders aus. Es ist zu und anscheinend auch von jemandem bewohnt. Der leere und brüchige Swimmingpool ist die Heimat von dutzenden Fröschen und ein paar Litern Regenwasser. Die Natur und der Zahn der Zeit nagt an allem.

Einige der von Ford erbauten Wohnhäuser

Wir waren nur kurz in Fordlândia, aber es war eine der intensivsten und interessantesten Stationen unserer Reise und Moppi musste sich sehr zügeln, um hier nicht noch drei Dutzend Abschnitte mehr über Fordlândia zu schreiben. Wenn Ihr einmal nach einem wirklich außergewöhnlichen Reiseziel sucht, Fordlândia ist es sicher wert, vorbeizuschauen. Und besucht Raimondo in der Pousada Americana! 🙂

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